Descartes beschreibt das Ziel seines Projekts einer radikalen Neubegründung aller Wissenschaften mit dem stoischen Bild vom Obstbaum: „Die gesamte Philosophie ist also einem Baume vergleichbar, dessen Wurzeln die Metaphysik, dessen Stamm die Physik und dessen Zweige die übrigen Wissenschaften sind, die sich auf drei hauptsächliche zurückführen lassen, nämlich auf die Medizin, die Mechanik und die Ethik (la morale), ich meine dabei die höchste und vollkommenste Sittenlehre (la plus parfaite Morale), die, indem sie die gesamte Kenntnis der anderen Wissenschaften voraussetzt, die letzte und höchste Stufe der Weisheit bildet.“ Ein eigenes Werk zur Ethik vorzulegen war ihm selbst jedoch nicht mehr vergönnt. In seinem letzten Werk „Über die Leidenschaften der Seele“ versucht er, die Brücke zu schlagen zwischen den neuen medizinischen und humanphysiologischen Erkenntnissen seiner Zeit und dem Neuansatz einer von der Theologie unabhängigen systematischen Ethik. Die Grundbegriffe seiner Philosophie der Moral entwickelt er bereits kurz vorher in einigen Briefen an Elisabeth von der Pfalz und in einem Gutachten für Christine von Schweden über das höchste Gut. Diese Briefe werden kurz nach dem Tod Descartes ediert und wenig später zusammen mit den ethischen Abschnitte der Passiones animae unter dem Titel „Die Kunst, glücklich zu leben“ (L’art de vivre heureux) in Paris herausgegeben. Eine lateinische Version des Werkes erscheint unter dem Titel Ethica cartesiana 1719 in Halle. Die Wirkung dieser Texte auf die Ethik der Aufklärung wird meist erheblich unterschätzt.
Im Seminar werden die Grundlagen dieses Entwurfs am Text erarbeitet und im offenen Gespräch vertieft. Die Teilnahme setzt die Bereitschaft voraus, alle jeweils anstehenden Texte vorbereitend durchzuarbeiten und einmal im Semester die Einführung in den Text und die Moderation der Aussprache zu übernehmen.
Übersetzung (Seminartext):
René Descartes: Die Passionen der Seele, hrg. und übersetzt von Christian Wohlers, Hamburg (Meiner) 2014 (Jubiläumsausgabe 150 Jahre Philosophische Bibliothek) - Literaturverzeichnis: CIX-CXVIII. [€ 15,00]
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