Von Geistern heimgesucht, heraufbeschworenen Monstern oder blutgierigen Vampiren verfolgt, wahnsinnig oder dem Wahnsinn anheimfallend, durch alte Gemäuer und die unheimlichen Tiefen menschlicher Abgründe irrend – so ergeht es einer Großzahl der unglücklichen Figuren der klassischen Fantastik, die spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts durch vielerlei literarische Schauerkulissen gejagt werden. Die Vertreter dieser Strömung, von Klassikern E.T.A Hoffmanns, Edgar Allen Poes oder H.P. Lovecrafts bis hin zu ihren modernen Adaptionen und Fortsetzungen in Literatur, Film und Fernsehen, bilden den Rahmen der konventionellen Definition des Begriffs „Fantastische Literatur“, der auf theoretischer Seite vor allem durch Tzvetan Todorovs „Einführung in die fantastische Literatur“ geprägt wurde.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts treten allerdings verstärkt Texte auf, die sich nicht mehr ganz dem Schema der klassischen Geister-, Spuk- und Wahngeschichten unterordnen lassen. Während sich allerdings bereits in den Werken Franz Kafkas zahlreiche bizarre Szenarien auftun, die von seinen Figuren entweder kommentarlos angenommen oder mit verzweifelter Determiniertheit akzeptiert werden – von der plötzlichen Verwandlung in einen Käfer bis zu undurchschaubaren und entmenschlichenden Strukturen – vollzieht sich die Genese dieser „Neo“-Fantastik vor allem in Lateinamerika. In den Texten von Jorge Luis Borges, Julio Cortázar und anderen taucht nunmehr eine Schreibweise auf, die nach neuen Parametern zu funktionieren scheint: ein geheimer Kellerwinkel, in dem sich ein unscheinbarer Punkt befindet, durch den man sämtliche Facetten des Universums gleichzeitig betrachten kann; eine fiktionale Welt, die langsam die Wirklichkeit verschlingt und real wird (oder die Realität als Fiktion erscheinen lässt?); ein Mann, der konstant Kaninchen erbricht, ein anderer, der sich in ein Reptil verwandelt oder sich (wortwörtlich) in der Betrachtung eines Fotos verliert.
Was bedeutet „fantastisch“ in einer postmodernen Welt, deren „Wirklichkeit“ durch mediale Simulacra, unbändige Komplexität, wissenschaftliche Relativierungen unserer Weltwahrnehmung und Psyche zunehmend brüchig scheint?
Dieser Frage widmet sich sowohl das Seminar als auch ein Großteil der Texte, die darin behandelt werden. Neben einigen theoretischen Grundlagentexten (u. a. Todorov, Alazraki, Jackson), die als wichtiges Fundament und Kontext für die Analyse dienen, beschäftigt sich das Seminar mit einer Auswahl von lateinamerikanischen Erzählungen, die sowohl einen Überblick über die lateinamerikanische Neofantastik als auch Anknüpfungs- und Vergleichspunkte zur Erzählform des postmodernen Fantastischen in anderssprachigen Literaturen und außerliterarischen Medien bieten.
Indem die Studierenden sich anhand einschlägiger Grundlagentexte mit den Dimensionen des „Fantastischen“ und seiner Aktualisierungen kritisch auseinandersetzen, sind sie in der Lage, wegweisende hispanoamerikanische Erzählungen komplexitätsaffin zu analysieren und poetologisch zu verorten, um so auch komparativische wie transmediale Relationen auszumachen.
Admission settings
The course is part of admission "Zeitgestuerte Anmeldung SoSe 2022 Romanische Literaturwissenschaft Spanisch/Portugiesisch".
The following rules apply for the admission:
The enrolment is possible from 21.02.2022, 00:00 to 01.05.2022, 23:00.
Registration mode
After enrolment, participants will manually be selected.
Potential participants are given additional information before enroling to the course.